Oje, die Frage aller Freundschaftsbücher, die jedes Kind aus der Klasse leichthin beantworten kann. Meistens ist es das jeweils aktuellste aller Chartstürmer, ein Klassiker der modernen Videokunst, immer eins, wo alle genau verstehen, dass und warum es da steht und wo alle ein Jahr später fassungslos sind, das ausgerechnet dieses Lied mal das Lieblingslied gewesen sein soll.
Und nun ich, der Lehrer, der wohlbegründete Meinung propagiert, der auf keinen Fall Geschmacksbildung beeinflussen will, aber vielleicht doch mal das Ohr auf etwas Besonderes, etwas ganz Anderes lenken....Pfui! Macht man nicht! Ehrlich bleiben! Also was ist eigentlich mein Lieblingslied?
Manchmal kann ich mich retten in ein gediegenes „Dieses Lied begleitet mich schon lange.“ Oder in ein relativierendes „Also im Moment, aber nur diese Woche, ist es...“ Oder in das welterfahrene „Du, das sind so viele wie zum Beispiel...“
Manchmal kann ich mich aber gar nicht retten. Ich würde gern mal wieder ein Lieblingslied haben – und dann habe ich es plötzlich, als Ohrwurm durchaus und durchaus unterschiedlich lange und, unfassbar für den Musiklehrer in mir: Es ist einfach nur Lieblingslied, weil es ist, wie es ist.
Das Lied gehört ausnahmsweise nicht zu dem Bereich, den ich „meine Musik“ nennen würde, früher das Kürzel für Abgrenzungen zu den Teilkulturen der Anderen. Es berührt mich einfach und das ist nach Jahren der ästhetischen Sachlichkeit ja wieder schick. Alles läuft darauf hinaus, ob etwas „mich berührt“, die Castingshows führen es vor. „Du hast nicht immer den Ton getroffen, aber du hast mich berührt.“ Berührung als Eintrittskarte in den Olymp.
Überall sind inzwischen solche berührenden Meine-Musik-Lieder unterwegs und überall erzeugen sie schon wieder einen neuen Hype: die Gänsehaut. Typische Konzertkritik heute: „Es war Gänsehaut pur!“ Beschreibung einer guten Stimme: „Du machst mir Gänsehaut.“ Schon fast bisschen unappetitlich, die dauerhaften Verweise auf die eigene dermatologische Verfassung. Und erfrischend das Fast-Wort des Jahres von Mehmet Scholl, wo zu viel Gänsehaut bei ihm im Sommer 2014 angesichts einer spannenden Fußball-WM zur „Gänsehautentzündung“ geführt hat.
Ich habe auch Gänsehautentzündung und Ohrwurmkatarrh und Schallgewürg, wenn die Überfülle mich tsunamisiert und dann sag ich einfach nicht, welches mein Lieblingslied ist und schon gar nicht warum. Denn mich berührt mein Lied doch ganz von innen, es macht mich froh, wenn ich es vor mich hin summe und es lässt mich oft lange nicht los, was ich ihm und nur ihm aber gern verzeihe.
Biete dann vielleicht noch ein kleines „Schlaf, Kindchen schlaf“ an, einen echten Evergreen, der nebenbei für die Kunst des Babysittens einen hohen Gebrauchswert hat und hoffe, dass, wenn irgendwann die unglaubliche Überbewertung der Benutzeroberflächen ein Ende finden sollte, wir wieder mehr gemeinsame Wörter finden werden für das, was wir mögen. Dann würde ich mein Lieblingslied gern zeigen.